Zur aktuellen Ausstellung IM RAUM von Nina Annabelle Märkl und Nani Boronat verweisen wir gerne auf einen Text, den der Kunstkritiker und Autor Xabier Aurtenetxe über Nanis „Visual Haikus“ verfasst hat: ‚VISUAL HAIKUS‘ – Eine Ausstellung von Nani Boronat bei MuniqueArt
Wer Gelegenheit hatte, Werner Herzogs wunderbaren Film ‚Die Höhle der vergessenen Träume‘ zu sehen, dem muss man nicht erklären, dass der Mensch nicht von Brot allein lebt. Er lebt ebenso sehr von Bildern. Denn der Mensch braucht Bilder. Er hat sie immer gebraucht. Er lebt, er liebt und hasst, er denkt und empfindet, er erinnert sich in Bildern.
Ja, er versteht und begreift sogar in Bildern.
Nani Boronat muss – auch wenn er mitunter die Malerei verlässt – weiterhin Bilder auf Papier zeichnen. Bilder aus Zärtlichkeit und Kratzspuren, aus Schaudern und Zorn, aus Sehnsucht und Erinnerung. Die Erinnerung an die Hand, die sich erinnert. Die Hand, die sich erinnert und zeichnet. Eine Hand, die fror, die den Nebel durchmaß. Runzlige, weise Hand. Die Weisheit der Hand, die anschließend zeichnet.
Die Entstehung dieser Zeichnungsreihe enthält noch den flüchtigen Verweis auf ein bildliches Element, einen alten Ölbaum mit kurzem knorrigem Stamm. Aber selbst in diesen zwei Zeichnungen herrschen die gestischen dynamischen Striche vor. Noch handelt es sich um Tuschezeichnungen. Doch der Künstler, den die Welt der Pigmente immer fasziniert hat, wird bald das Nussschalenpulver für sich entdecken, eine natürliche Farbe aus den Perikarpen oder äußeren Schalen der Walnüsse. Mit diesem neuen Material bemüht er sich um höchstmögliche Expressivität mit minimalen Mitteln und verlässt dabei jeden Bezug zum Figurativen. Die Vehemenz der Geste wird zum Ziel ihrer selbst.
Auch wenn diese Zeichnungen manchmal an die Kanji der japanischen Kalligrafie erinnern, so hat ihre energische Gestik wenig mit dem geschmeidigen Pinselstrich der Shodo -dem Weg des Schreibens- zu tun. Kalligrafie ist Schrift, Boronat schreibt nicht. Der Raum ist nach östlicher Vorstellung unendlich; es ist kein definierter Raum. Boronats Raum ist es. Dennoch haben beide Harmonie und Eleganz der Linien gemein, die nicht nur ästhetischen Genuss atmen, sondern eine jahrtausendalte Weisheit enthalten. Beide – die Kalligrafie und die Zeichnungen von Boronat – sind Parzellen ein und desselben archaischen Territoriums. Selbst wenn diese Zeichnungen vom formalen Aspekt her näher an der abstrakte Kalligrafie des Franzosen Claude Mediavilla sind, einem Erneuerer der Schönschreibkunst.
Als Ursprung des gestischen Ausdruckes, unter dessen Eindruck dem man sich dieser Zeichnungsreihe nähern kann, ließe sich die Surrealismus-Bewegung mit ihrer Bedeutung des Unbewussten als poetischer Quelle definieren und ihrer Konzeption der automatischen Schrift, die in der Malerei zum Kritzeleien von Masson führen wird und in den großartigen, fast kalligrafischen Zeichen von Matthieu kulminiert. Und der Expressionismus von Kandinsky, der 1912 mit ‚Mit dem schwarzen Bogen‘ das Bild malt, das als Keim gestischer Ausdruckweise zu betrachten ist. Für die gestischen Maler ist die Struktur des Bildes oder der Zeichnung das Ergebnis der Intuition des Künstlers, aber auch des unterschiedlichen Verhaltens von Tinten und Farben – wie z.B. Farbspritzern und Bildung von Farbflüssen. Lebenskraft und Psyche des Künstlers sind Motor, Ressource und Sinn seiner Arbeit. Genaugenommen handelt es sich nicht um reine Zeichen, sondern um die Übergabe innerer Erfahrungen. Das Ziel ist moralischer Art: Der reine Strich soll zum Ausdruck des originären, authentischen und ursprünglichen Seins werden. Der Strich strebt nicht nach Schönheit, er strebt einfach nach Reinheit.
Wenn ich diese Zeichnungsreihe von Nani Boronat beobachte, denke ich, dass auf sie das zutrifft, was Gaston Bachelard über die geistigen Bilder schreibt, die beim Lesen von Lautréamont entstehen: ‚Wir stellen uns vor, diese Bewegungen zu wiederholen, und die Kraft hineinzulegen, die sie fordern, und unter der Macht dieser Verzauberung scheint uns, als habe sich die dicke Flüssigkeit in unseren Adern in ein wunderbares Lebensfluidum verwandelt.‘ Die Form kommt zum Künstler, ganz von allein und quasi ohne sein Wissen. Kandinsky schreibt zu diesem Thema: ‚Nichts ist schädlicher und schuldhafter als seine Form zu suchen, indem man sich selbst Zwang auferlegt. Der innere Instinkt, der schöpferische Geist wird unabdingbar und zur rechten Zeit die Form schaffen, die er braucht.‘ Die ‚Unsichtbaren Zeichnungen‘ von Boronat kommen aus dem Gedächtnis, aus einem unergründlichen arkanen Leben, mit dessen Hilfe eine imaginäre Welt geschaffen wird. Gleichsam, als wandle man auf seinen Wegen und Pfaden in einem eigentlich unmöglichen Labyrinth.
Gedächtnis und Intuition führen seine Hand, wenn er mit Wasser einen schnellen Pinselstrich auf das Papier zieht. Wie Klee geschrieben hat: ‚Das Bild geht aus der Bewegung hervor, es ist selbst fixierte Bewegung und wird durch Bewegung (der Augenmuskeln) wahrgenommen‘. Diese Striche, ganz unterschiedlich und nicht reproduzierbar, gehen über die Trivialität der modernen, absurden und in ständiger Bewegung begriffenen (wenn nicht gar nebulösen) Gesellschaft hinaus, indem sie die Individualität würdigt, über die Kundera in seinem letzten Buch spricht: das nicht Imitierbare, das herrlich Einzigartige, das keine Wiederholung zulässt. Die Wasserstriche auf dem Papier sind mit bloßem Auge kaum sichtbar. Wie ein Wissenschaftler, der verschiedene Farbstoffe und Techniken einsetzt, um in einer Petrischale vorhandene Mikroorganismen nachzuweisen, benutzt Boronat Nussschalenpulver, das er auf die Zeichnungen streut, um diese vor unseren Augen entstehen zu lassen. Das erdige Pulver bahnt sich einen Weg durch die feuchte Zeichnung wie ein Wasserlauf, der sich nach und nach ins Meer ergießt. Und so wie Paraffin Pulverspuren auf den Händen des Schützen verrät, genauso transportiert das Nussschalenpulver die vom Künstler gezeichnete Zeichnung an die Oberfläche des Papiers. Und man erlebt dann einen zauberhaften Moment in diesen Augenblicken zwischen Unsichtbarkeit und Erscheinen. Direkt vor dem Betrachter kann man plötzlich der vom Künstler gezeichneten Bewegung folgen. Paul Klee beginnt seinen Essay ‚Schöpferische Bekenntnisse‘ mit einem unwiderruflichen Lehrsatz: ‚Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.‘
Grob kann die die Typologie der ‚Unsichtbaren Zeichnungen‘ in zwei Kategorien einteilen: Ich werde die erste ‚Nebelsterne‘ nennen, weil sie mich an Sternenmassen erinnern, und die zweite Art ‚Vibrionen‘, Kommata, weil es sich Impromptus sind, vibrierende Bewegungen, wie ausgelöst durch einen elektrischen Schlag. Als wolle er die Karten neu mischen, so versucht Boronat manchmal die ursprüngliche Spur vor uns zu verstecken, die das Nussschalenpulver sichtbar macht. Er greift mit irgendeinem Gegenstand in die noch feuchte Zeichnung ein oder lässt sie mit kleinen mechanischen Spielzeugen überqueren. Aber wie sollten wir uns dem Werk von Nani Boronat nähern? Der französischer Maler und Physiktheoretiker Jacques Mandelbrojt erklärt, dass: bei der Betrachtung eines Bildes der Raum des Bildes zur Zeit des Betrachters wird. Die Zeit der Augenbewegungen über das Bild hinweg, oder die Zeit des mentalen Bildes, das in ihm entsteht. Durch die analoge Identifikation des Betrachters mit dem Bild oder dem Künstler, fühlt dieser die kinästhetische Empfindung nach, über die Berenson schreibt.
Die Zeit des Betrachters einer Malerei oder einer Zeichnung wäre im idealen Fall die Zeit des Malers, wie Dubuffet es erklärt: ‚Das Bild wird nicht passiv angesehen, nicht gleichzeitig mit einem Blick erfasst, sondern wird in seiner Ausarbeitung wieder erlebt… Die ganze innere Mechanik soll sich beim Betrachter in Bewegung setzten. Er kratzt, wo der Maler gekratzt hat; er reibt, hebt aus, kittet, wo der Maler es gemacht hat. Alle vom Künstler gemachten Bewegungen fühlt er in sich selbst nach. Wo Farben flossen, erlebt er das Abrutschen der klebrigen Farbe durch die Schwerkraft. Wo sich die Oberfläche beim Trocknen gewellt hat, spürt auch er das Trocknen, das Zusammenziehen, das Gewellte‘. Für den Betrachter ist nicht immer leicht, die Zeit des Malers wiederzufinden, die Bewegung der Hand zu erkennen und die geistigen Bilder des Künstlers nachzuempfinden. Um diese Identifizierung mit dem Künstler zu erleichtern, wird Nani Boronat vor dem Publikum ein Paar Zeichnungen realisieren. Das wird uns helfen die individuelle Syntax zu erlernen, die seinen ‚Unsichtbaren Zeichnungen‘ zugrundliegt. Zeichnungen, die uns quer durch die Jetzt-Zeit hindurch aus einem Ort ohne Raum, einem Moment ohne Zeit erreichen. Sie können uralt erscheinen, sind aber konkrete Erinnerung. Mit dem Werk von Boronat beginnt eine Unterhaltung zwischen Erzähler und Erinnerung und so entspinnt sich unausweichlich ein pluralistischer, offener Diskurs, den wir uns sehr wahrscheinlich zu Eigen machen werden, ohne ihn als unseren ursächlich eigenen zu betrachten.
Xabier Aurtenetxe, München
Text vom September 2014
Hinweis: Die Ausstellung IM RAUM ist noch bis zum 15. November zu sehen.
Immer donnerstags und freitags von 14-20 h und samstags von 11-20 h.